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Ashura in Iran (Berichte)


behruz

Empfohlene Beiträge

#augenroll#

 

Ich möchte hier gerne zwei Berichte über Ashura im Iran posten. Ich möchte hier alle Glaubensgeschwister "vorwarnen", dass die Berichte aus "westlicher Feder" stammen und deshalb vielleicht "Defizite" vorweisen. :P Aber sie sind doch relativ gut gelungen (für westliche Verhätnisse).

 

Der erste Post wird vom Ashura-Tag des Jahres 2005 handeln. Der zweite Post wird ein anderer Artikel sein.

 

Krönend abgeschlossen könnte der Thread mit einem Ashurabericht des Jahres 2006 von Schwester Fatima werden, da sie, soweit ich es ihren Posts übernommen habe, dort war. :) Natürlich nur, wenn sie will. Mein Ashura in Iran reicht schon mehr als 10 Jahre zurück und deshalb sind nicht mehr viele Erinnerungen da, da ich eben noch ein Kind war.

 

Alle anderen sind natürlich auch von ihren Ashuraberichten innerhalb oder außerhalbs Iran zu berichten (z.B. Libanon oder Irak etc). Mein Threadtitel bezieht sich lediglich auf die Artikel.

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:)

 

Ich möchte hier gerne zwei Berichte über Ashura im Iran posten. Ich möchte hier alle Glaubensgeschwister "vorwarnen", dass die Berichte aus "westlicher Feder" stammen. :D Aber sie sind doch relativ gut gelungen.

 

Der erste Post wird vom Ashura-Tag des Jahres 2005 handeln. Der zweite Post wird ein anderer Artikel sein.

 

Krönend abgeschlossen könnte der Thread mit einem Ashurabericht des Jahres 2006 von Schwester Fatima werden, da sie, soweit ich es ihren Posts übernommen habe, dort war. #as# Natürlich nur, wenn sie will. Mein Ashura in Iran reicht schon mehr als 10 Jahre zurück und deshalb sind nicht mehr viele Erinnerungen da, da ich eben noch ein Kind war.

 

Alle anderen sind natürlich auch von ihren Ashuraberichten innerhalb oder außerhalbs Iran zu berichten (z.B. Libanon oder Irak etc). Mein Threadtitel bezieht sich lediglich auf die Artikel.

 

:P

 

sehr schöne Idee! Wieso, auch mein Artikel würde doch aus "westlicher Feder" stammen, schließlich bin ich durch meine Konversion nicht zu einer Türkin oder Iranerin mutiert. #augenroll#

 

:D

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TEIL 1

 

Teheran, 24.02.2005 - Am Sonntag war Aschura, der Tag an dem der geliebte Imam Hussein der Schiiten vom Yazid des Umayyad Kalifat geköpft wurde. "Sie müssen sich das so vorstellen", erklärt mir mein Taxi-Fahrer, "die Bewohner von der Stadt Kufa, im heutigen Irak, haben Imam Hussein eine E-Mail geschickt, klagten über die furchtbar fehlgeleitete Herrschaft Yazids in Arabischen Ländern, die Menschenrechtsverletzungen, Sklaverei, Unterdrückung und Tyrannei, und das alles im Namen des Islam. Sie flehten ihn an, sie zu retten."

 

 

Schlachtfest in Teheran: Bei wichtigen religiösen Anlässen werden Schafe geopfert

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Der Fahrer muss sich kurz auf die Straße konzentrieren. Am Straßenrand liegen Dutzende geköpfte Schafe auf einem Haufen, ein weiteres klemmt zwischen den Beinen eines jungen Mannes. Es ist Sitte bei wichtigen religiösen Anlässen, Schafe zu opfern. Das Fleisch kommt außer Verwandten und Freunden den Armen zugute, die vielleicht sich sonst nie oder selten Fleisch leisten könnten.

 

Imam Hussein, der Enkelsohn des Propheten, sah es als seine Pflicht an, den korrupten Yazid zu konfrontieren. Aber als er und seine Gruppe in Karbala nahe Kufa ankamen, wurden sie von einer Armee von Tausenden empfangen. Yazid zwang Imam Hussein sich seiner Herrschaft zu unterwerfen, oder Krieg zu führen. Die Gefährten des Imams waren nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder. In der Nacht sagte ihnen Imam Hussein: "Tod und Märtyrertum sind nahe. Die wollen nur mein Blut. Wenn sie mich töten, seid ihr gerettet. Bitte nutzt die Dunkelheit der Nacht und flieht." Einige sind geflohen, doch 72 Männer, Frauen und Kinder blieben bei Imam Hussein.

 

Imam Hussein konnte nicht mit einem Führer, den er und viele andere als den Zerstörer des Islam ansahen, Kompromisse schließen. Am nächsten Tag wurden er und die meisten seiner Anhänger getötet. Das war im Jahr 680. Bis heute verkörpert das Märtyrertum des Imam Hussein, auch "Herr der Märtyrer" genannt, den Kampf für Gerechtigkeit und den Widerstand gegen Unterdrückung und Korruption.

 

Zehn Tage lang erleben die Iraner die Geschichte der Schlacht in Karbala als würde sie tatsächlich in einem zeitverschobenen Universum passieren. Jeder Tag bis zum Höhepunkt am zehnten prägt seine eigene Signifikanz. Die verschiedenen Nachbarschaftsvereine führen ihre Prozessionen vor, machen und verteilen Tausende Portionen Essen an die Nachbarschaft und organisieren Trauersitzungen.

 

 

Mann mit Kettenzopf: Marsch zu Ehren von Imam Hussein

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Mit großen Trommeln und Zimbeln marschieren junge, kräftige Männer in rhythmischen Schritten, allesamt in schwarz, heben Kettenzöpfe in die Luft um sie dann auf ihre Schulterblätter fallen zu lassen. Sie tragen riesige Metallkonstrukte, Alam, die zum Teil über 200 Kilogramm wiegen, alleine auf den Schultern. "Es ist unangemessen, nach dem Gewicht des Alams zu fragen", antwortet mir der 33-jährige Ali Bakhtiari. Schweiß fließt seine Stirn herunter und die Ader schwellen auf seinen Bizeps hervor, während er eine Pause einlegt. "Imam Hussein hat das Gewicht der Welt auf seinen Schultern getragen, für Gerechtigkeit. Auch wenn der Alam 500 Kilogramm wiegen würde, Imam Hussein hilft dem Gläubigen, ihn zu tragen." Jedes Jahr verlässt der Schneider seinen Job für zehn Tage um sich ganz den Moharram Aktivitäten seines Vereins zu widmen, "aus Liebe zu Hussein".

 

Das überwiegend zoroastrische Persien war nicht immer verrückt nach Hussein. Erst vor 500 Jahren nahm der Gründer der Saffavid-Dynastie den schiitischen Glauben an, um eine verstreute Nation zu vereinen und sie gegen die Aggressionen der Osmanen zu mobilisieren.

 

Heute ist das Ausmaß dieses Tages kaum zu erfassen. Als einziges Land mit über 90 Prozent Schiiten nehmen fast alle irgendwie an dieser Trauerfeier teil.

 

Die 14-jährige Fariba steht hinter einem übergroßen Samowar und schenkt den Passanten Tee ein. Der Imam-Hussein-Tee wird sowohl ihr als auch denen, die ihn trinken, Segen bringen. Daran glauben die Iraner fest. So stehen auch oft wohlhabende Frauen mit Chanel-Sonnenbrillen und Gucci-Handtaschen in langen Schlangen oder chaotischen Gedrängel, nur um eine Portion Imam-Hussein-Essen zu bekommen.

 

"Er war ein richtiger Mann", sagt Fariba, "er hat sein Leben für seinen Glauben geopfert. Die Männer von heute sind dagegen Waschlappen." Dann guckt sie rüber zu einem Mann mit einem strengen Bart und senkt die Stimme. "Vor allem hat Imam Hussein den richtigen Islam gelehrt. Die hier denken, man ist nicht Muslim, wenn man Musik hört oder die Haare raushängen." Sie macht die Augen weit auf, hebt die Augenbrauen, und gibt mir einen "als ob"-Blick.

 

Prozession mit Alam: Die Metallgestelle können bis zu 200 Kilogramm schwer sein

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In dieser konservativen Nachbarschaft im Süden Teherans haben viele Familien ihre Häuser in Trauerzentren konvertiert. In einem Haus schwitzen die Männer in der Küche und bereiten Essen für 2000 Leute vor. Im Nebenzimmer, umrandet von schwarzen Vorhängen, sitzen Frauen und klopfen mit der Hand leicht gegen die Brust. Die Tochter des Hausbesitzers, Mohadesse Javadi, sagt das Leben von Imam Hussein ist sehr wichtig für heute. "Alle Tage sind Aschura, und alle Länder sind Karbala", sagt die 21-jährige Theologie-Studentin. "Wir müssen uns dem Unterdrücker immer widersetzen, ob es Yazid ist oder die Vereinigten Staaten. Amerika ist der de facto Yazid unserer Zeit, vergewaltigt Grenzen und stört die Sicherheit der Menschen."

 

Weiter im wohlhabenden Norden der Stadt, am Mohseni Platz, treffen sich junge Mädels und Jungs in den neuesten Outfits und Haarfrisuren für "Liebe und Spaß", wie einer von ihnen sagt, und "um zu sehen und gesehen zu werden", wie es eine andere ausdrückt. Dieser Platz hat schon in der Vergangenheit für Auseinandersetzungen gesorgt. Auch dieses Jahr müssen die Jugendlichen am Abend vom Platz gescheucht werden. Während die meisten Iraner trauern, befinden sich diese Nord-Teheraner Jugendlichen auf einer "Hussein-Party," ihrer eigenen Bezeichnung nach.

 

 

Ein Junge mit Alam: "Imam Hussein hilft dem Gläubigen, ihn zu tragen"

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"Islam hat die Bedeutung für viele verloren, nur so kann man die Erscheinung dieser Hohlköpfe da drüben erklären", schimpft die 25-jährige Architektin Sara, die sich zwar auch auf dem Platz befindet, aber vor der Bühne an der Seite, wo Imam Husseins Leben von einem Geschichtenerzähler dramatisch vorgeführt wird. "Wenigstens heute, aus Respekt zum Imam Hussein, hätten sie zuhause bleiben können."

 

"Ich respektiere Imam Hussein", protestiert der 19-jährige Atila, dessen stylish gegelten Haare die grünen Dekorationslichter auf den Bäumen reflektieren. "Ich trinke keinen Alkohol in diesem Monat", sagt er und pafft lässig an seiner Zigarette, "aber wie viele Nächte, meinen Sie, haben wir um raus zu gehen, draußen Freunde zu treffen? Sehr wenige. Drei allerhöchstens. Außer Iran gewinnt in einem wichtigen Fußballspiel wie gegen Japan nächsten Monat, dann vier." Sein Freund Abuzar, 19, springt ein, "Keiner sagt, der Islam ist schlecht, aber wo sollen wir hingehen?"

 

"Alle Jugendlichen, die Sie heute hier sehen", sagt der 28-jährige Architekt Kamyar Tezval, "haben als Kinder ihre Zeichentrickfilmprogramme durch den Ruf zum Gebet und Koran-Vorlesungen unterbrechen müssen." Tezval und seine Frau sehen sich auch die Passion an. Sie hat Tränen in den Augen. "Der Koran ist wundervoll. Jeder der ihn liest, liebt ihn", sagt er. "Aber wenn einem die ganze Zeit der Koran auf den Kopf gehauen wird, dann kann es sein, dass man eine Abneigung entwickelt."

 

Imam-Hussein-Tee aus dem Samowar: Hoffen auf den Segen

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Spät am Abend kommt es wieder zu Auseinandersetzungen. Paramilitärische regimeloyale Extremisten, Basijis genannt, jagen die Jugendlichen mit ihren Baseballschlägern vom Platz. "Wir kennen einander alle", sagt der 20-jährige Informatikstudent Arasch, während er mit seinem Freund vom Platz weggeht, sein Schal im Winterwind flatternd. Sein Vater ruft auf seinem Handy an, um sich seiner Sicherheit zu vergewissern. "Wir sind alle die Nord-Teheran Kids. Die Basijis wissen, dass sie uns mit ein paar Baseballschlägen wegjagen können. Mit den Kids im Süden der Stadt können sie das nicht machen. Die würden zurückschlagen. Wir laufen einfach weg", sagt er und zuckt mit den Achseln.

 

Auf dem Weg nach Hause halten die zwei Freunde an einem Stand an, um Kerzen anzuzünden. Am Aschura-Abend leuchten die Iraner Kerzen für Imam Hussein, damit es im Jenseits nicht zu dunkel wird und er sich nicht einsam fühlt. Während die entschlossenen Augen des schönen Imam Hussein, gekleidet in tiefgrünen Gewänder, von der Wand auf sie blicken, leuchten die Kerzen von Arasch und seinem und beide wünschen sich etwas. "Ich kann Ihnen nicht sagen, was ich mir gewünscht habe, dann geht es ja nicht in Erfüllung", rechtfertigt sich Arasch. "Dass Iran gegen Japan im Fußballspiel nächsten Monat gewinnt!", lacht sein Freund und klopft Arasch auf den Rücken.

 

http://www.spiegel.de/netzwelt/netzkultur/...,340753,00.html

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:)

 

:P

 

sehr schöne Idee! Wieso, auch mein Artikel würde doch aus "westlicher Feder" stammen, schließlich bin ich durch meine Konversion nicht zu einer Türkin oder Iranerin mutiert. #augenroll#

 

:D

 

Ok, ich nehme es hiermit offiziell zurück. #as#

 

Va Salam

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TEIL 2

 

Die Seele des Iran

Das Porträt eines entfernten Landes

 

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MÜNCHEN (BLK) – In seinem bei C.H.Beck erschienenen Buch „Im Rosengarten der Märtyrer. Ein Portrait des Iran“ gibt Christopher de Bellaigue einen Einblick in die heutige iranische Gesellschaft, ihre Kultur und Religion, aber auch in ihre Historie. Er lässt die Menschen zu Wort kommen – Mullahs und Revolutionäre, Intellektuelle und Künstler, fliegende Händler und Mystiker. Und erhellt damit eine der „enigmatischsten, unzugänglichsten Gesellschaften der Welt“, wie Navid Kermani schreibt. Wer besser verstehen wolle, warum gerade der Iran eine Schlüsselstellung in den weltpolitischen Konflikten unserer Zeit einnimmt, der müsse dieses Portrait des mächtigsten islamischen Landes lesen.

 

Christopher de Bellaigue, geboren 1971 in London, hat Islamwissenschaften studiert und arbeitet als Journalist für den „Economist“ und den „New Yorker“. Er lebte bis vor kurzem mit seiner iranischen Frau und seinem Sohn in Teheran. (bor/hoe)

 

© C.H.Beck

 

Kerbela

 

Schon vor langer Zeit habe ich mich gefragt: warum lächeln die Menschen in Iran nicht? Noch ehe ich zum ersten Mal auf die Idee kam, das Land zu bereisen, hatte ich Fotos von Tausenden von weinenden Iranern gesehen, von Männern und Frauen in schwarzen Gewändern. In Iran, so las ich, gilt Lachen in der Öffentlichkeit als grob und ungehörig. Später, als ich an der Universität an einem Kurs in Orientalistik teilnahm, erfuhr ich, dass die Ideologie der Islamischen Republik nicht zuletzt auf der Sehnsucht seiner Bürger nach einem Mann beruht, der vor mehr als dreizehnhundert Jahren gestorben ist. Es ist der Imam Hossein, der größte Märtyrer des schiitischen Islam, ein Mann, dessen Tugend und Tapferkeit allen Gläubigen moralischen Halt gibt. Jetzt, wo ich in Teheran wohne und die niemals endende Trauer der Iraner um ihren Imam miterlebe, spüre ich, daß ich unter Menschen lebe, die in ihrem Kummer schwelgen, ihn genießen. In Iran gedenkt man an einem dufterfüllten Frühlingstag mit Trauer und inniger Freude im Herzen dieses Mannes, während man einen Marienkäfer betrachtet, der einen Grashalm hinaufklettert, oder während man liebt. Das war schon vor fünfzig Jahren so, lange vor der Gründung der Islamischen Republik, und es wird auch noch fünfzig Jahre nach ihrem Ende so sein.

 

Als ich die Trauerzeremonien für den Imam Hossein zum ersten Mal miterlebte, fühlte ich mich an die christlichen Büßer des Mittelalters erinnert, die ein Kreuz durch den Staub schleppten und sich geißelten. Auch im modernen Iran beobachtet man Selbstgeißelung und das Schleppen schwerer Gegenstände – manchmal eines massiven, hölzernen Tabernakels, der Hosseins Totenbahre darstellt – als Ausdruck religiöser Inbrunst. Die christlichen Büßer handelten für sich selbst. Katastrophen wie der Schwarze Tod weckten das Bedürfnis zur Sühne, um sich und seine Familie vor dem Zorn Gottes zu retten. Die Trauer der Iraner kennt diese Gründe nicht. Sie ist nicht ein Akt der Sühne, sondern allein gefühlsstarkes Erinnern. Die Iraner weinen mit einer Hingabe um Hossein, die keine Gegenleistung verlangt. Sie baden förmlich in ihrem Kummer – so als ob der Imam ihnen, wenn er nur ein paar Jahre länger gelebt hätte, denWeg durch den Morast ihres eigenen Lebens hätte weisen können. Sie lecken sich die Lippen, genießen ihr Unglück.

 

Ich sehe Hossein an den Schnellstraßen von Teheran, wo sein Name mit Blumen auf steile, grüne Böschungen gepflanzt wird. Ich sehe sein Bild an den Wänden von Läden und Tankstellen und auf schwarzes Tuch gedruckt, das an den Mauern in den Straßen befestigt ist. Auf konventionellen Darstellungen ist er ein Supermann mit breiter, ehrlicher Stirn und Augen, die Standhaftigkeit und Mitgefühl ausstrahlen. Ein üppiger Bart bezeugt seine Männlichkeit, aber seine Haut leuchtet wie die einer indischen Gottheit. Er trägt einen fein gearbeiteten Helm mit einem Federbusch in der grünen Farbe des Islam und hält eine Lanze in der Hand. Einmal bat ich eine ältere iranische Frau, mir Hosseins folgenschweren Tod zu beschreiben. Sie redete, als hätte sie das Ereignis unmittelbar erlebt, und schien sich mühelos an jeden Ausdruck, jedes Wort, jede Handlung, die zu seinem Untergang geführt hatten, zu erinnern. Sie nannte die Frauen und Kinder in Hosseins Entourage, als seien sie Mitglieder ihrer eigenen Familie. Dabei verbrauchte sie mindestens ein halbes Dutzend Kleenextücher, um ihren Tränenstrom zu trocknen.

 

Jeder Iraner träumt davon, nach Kerbela zu pilgern, zu dem in einer dürren Landschaft gelegenen Schrein im Zentrum des Irak, der dort errichtet wurde, wo Hossein den Märtyrertod erlitten hat. Ich selbst bin im Gefolge der amerikanischen Invasoren dorthin gefahren und habe das Grabmal des Imam besichtigt. Im Inneren des vergoldeten Kuppelbaus umrundeten irakische Gläubige ruhig einen Sarkophag, dessen silberne Seitenplatten von liebkosenden Fingern und Lippen abgewetzt waren. Sie murmelten Gebete, Bitten und Selbstanklagen. Plötzlich wurde der Frieden durch Stöhnen und das Schlagen von Fäusten gegen die Brust gestört, von abgerissenen Lauten einer geradezu leidenschaftlichen Verzweiflung. Fünf oder sechs aufgewühlte Männer hatten sich dem Sarkophag genähert. Einer von ihnen war halb zusammengebrochen, die Hand nach dem Imam ausgestreckt. Die anderen torkelten und rutschten wie Landratten auf einem schwankenden Schiffsdeck. Mein irakischer Begleiter verzog voller Abscheu den Mund. «Iranische Pilger», sagte er.

 

 

All das geht zurück auf das Jahr 632 nach Christus, als der Prophet Mohammed starb und sein Vetter und Schwiegersohn Ali das Kalifat zuerst Abu Bakr, dem Schwiegervater des Propheten, und dann Abu Bakrs Nachfolgern Omar und Osman überlassen mußte. Ali gab seine politischen und militärischen Ämter auf und wartete, bis seine Zeit kam. Einige Historiker behaupten, daß statt der Bescheidenheit und Frömmigkeit der Zeit des Propheten nun Korruption und Hedonismus herrschten. Fünfundzwanzig Jahre später, nach der brutalen Ermordung Osmans, wurde Ali endlich zum Kalifen gewählt. Aber seine Herrschaft, so tugendhaft sie auch war, endete schon nach fünf Jahren mit seiner Ermordung und wurde Anlaß zum Bruch zwischen seinen Anhängern und dem Klan Osmans, den Omaijaden. Ursprung dieses Bruchs war ein dynastischer Streit zwischen den Anhängern der Familie des Propheten, die von Ali repräsentiert wurde, und den Weggefährten des Propheten, repräsentiert durch die ersten drei Kalifen. Dieser Streit nahm eine Spaltung vorweg, die bis zum heutigen Tag zwischen den Schi´as, den Shiiten – wörtlich den «Parteigängern Alis» – und den Sunniten besteht, den Anhängern der Sunnah, der Tradition Mohammeds.

 

Nach Alis Ermordung schloß sein unfähiger ältester Sohn Hassan einen Handel mit den Omaijaden ab. Im Jahr 680 nach Christus starb Hassan, und Alis jüngerer Sohn Hossein wurde Oberhaupt der Nachkommen des Propheten. Hossein war fromm und tapfer und erneuerte den ererbten Anspruch seiner Familie auf die Herrschaft über die Mohammedaner. Das brachte ihn in Konflikt mit dem Omaijaden Yazid, dem Kalifen in Damaskus. Als die Einwohner von Kufa, einer Stadt in der Nähe von Kerbela, Hossein baten, sie von der Herrschaft Yazids zu befreien, zog der Imam aus, um sein Geburtsrecht einzufordern, und brachte damit die Ereignisse ins Rollen, die schließlich zu seinem Märtyrertod führten.

 

Am Vorabend eines Jahrestages von Hosseins Tod lieh ich mir ein schwarzes Hemd und fuhr mit dem Taxi in ein Arbeiterviertel im Süden Teherans. Die Hauptstraße, an der das Taxi mich absetzte, füllte sich bereits mit Familien und Männern, die Schafe an Stricken mit sich führten. Große Kessel standen am Straßenrand bereit. Alle waren schwarz gekleidet. Selbst kleine Mädchen trugen den Tschador, ein verschlußloses schwarzes Tuch, das den weiblichen Körper verhüllt, ohne seine Formen zur Geltung zu bringen. Am Ende einer Straße, die gesäumt war von zweistöckigen Ziegelhäusern, hatte sich eine Menschenmenge gesammelt. Die Leute – schwarze Konturen vorm Asphalt – wandten uns den Rücken zu, an Schnüren zwischen den Pfosten der Straßenlaternen hingen schwarze Fähnchen. Als ich auf die Menge zuging, fand ich mich neben einem Mann mittleren Alters wieder, dem seine Familie folgte. «Hossein …», murmelte er. Er wirkte erschrocken und ratlos, als habe er die Nachricht vom Märtyrertod des Imam soeben erst empfangen. Am anderen Ende der Straße befand sich eine Bühne, die mit Topfpflanzen markiert war. In ihrer Mitte stand eine Wasserschale auf einem grünen Tuch. Die Frau und die Töchter des Mannes neben mir gingen zur gegenüberliegenden Seite der Bühne, wo sich die Frauen und Kinder unter einem Zeltdach versammelten. Sein Sohn gesellte sich rechts zu einer Gruppe junger Männer mit pomadisiertem Haar. Die Rückseite der Bühne war links, wo ein Orchester postiert war, das aus zwei Tombak-Trommeln und einer Trompete bestand. Ich blieb auf der vorderen Seite stehen. Plötzlich bildeten die Männer vor uns eine Gasse, um einen Strom von Urin die Straße hinunterfließen zu lassen. Er stammte von einem Kamel, das zitternd und mit eingeknickten Beinen im Licht der Bogenlampen stand.

 

Ein junger Trompeter ließ ein Signal ertönen, und der sittenlose Damaszener trat von links auf die Bühne. (Alle erkannten Yazid: Er trug einen rot-gelben Umhang, der seine Liederlichkeit hervorhob, und seine Kleidung wies auch nicht das kleinste bißchen Grün auf.) Auf seinem Helm wehte eine gelbe Feder. Sein fettes Gesicht war ausdruckslos. Nachdem er eine Weile herumgestampft war, begann er unanständige Worte in ein Handmikrophon zu brüllen, das an einen Lautsprecher angeschlossen war, der unmittelbar mit meinem Gehör verbunden schien.

 

Obwohl er die islamischen Länder im Namen des Islam regierte, war Yazid bekannt für seine Verworfenheit. Noch heute verabscheuen ihn die Iraner, als sei er in seiner ganzen Bosheit immer noch am Leben. Sie erinnern sich an die Menagerie unreiner Tiere wie Hunde und Affen, die er an seinem Hof gehalten haben soll. Sie reden mißbilligend von dem «Kommen und Gehen» – ein verbreiteter Euphemismus für frenetische sexuelle Aktivität – wofür Damaskus damals bekannt war. Es wird behauptet, Yazid sei ebenso verschlagen wie lasterhaft gewesen.

 

Vielleicht hatte Hossein nicht mit seiner Verschlagenheit gerechnet. Als er und seine Kameraden ihr Lager bei Kerbela am Ufer des Euphrat aufschlugen, hatte der Kalif die Einwohner von Kufa bereits bestochen, so daß sie ihr Versprechen widerriefen, Hossein zu unterstützen. Seine kleine Schar von Kämpfern war der großen Armee, die Yazids Heerführer Schemr gesammelt hatte, zahlenmäßig weit unterlegen. Schemr hatte Hossein den Zugang zum Euphrat abgeschnitten, und Mesopotamien ist im Sommer höllisch heiß.

 

Auf der Bühne gaben die Schauspieler die Überredungsversuche, Verhandlungen und moralischen Nöte wieder, die Hosseins Märtyrertod vorangingen. Die Frauen und Kinder in Hosseins Entourage litten unter der Hitze. Da sich keine Frauen auf der Bühne befanden, erfuhren wir dies von einem Erzähler, einer schlanken, beweglichen Ausgabe des Mannes, der Yazid spielte und vielleicht sein Bruder war. Plötzlich gab es Bewegung auf der linken Seite der Bühne, und Yazid trat wieder auf. Die Bewegungen und der Ausdruck des Schauspielers waren die gleichen, aber jetzt war er von Kopf bis Fuß grün gekleidet. Er hatte die Rolle gewechselt und war nun Hossein.

 

Soweit ich durch das Echo und die Nebengeräusche verstehen konnte, schilderte Hossein die Qual, die ihm sein Entschluß bereitete, bis zum Tod zu kämpfen. Wenn er Yazid den Lehenseid leistete, würden er und seine Kameraden verschont bleiben, aber das würde bedeuten, ehrlos weiterzuleben und GottesWillen zu mißachten. Dann trat Hosseins Halbbruder Abol Fazl auf.

 

Auf Abbildungen wird Abol Fazl ebenso gottähnlich dargestellt wie sein Bruder, nur intensiver vom Wetter gegerbt. Dieser Abol Fazl war schlau und ölig. Er hätte sehr überzeugend einen Schafsdieb darstellen können. Er war erheblich kleiner als Hossein, den er wiederholt an die Brust drückte. Beide weinten. Hossein bat Abol Fazl, Wasser vom Fluß zu holen. Beide wußten, daß der jüngere Bruder kaum eine Chance hatte, lebend von seiner Mission zurückzukehren.

 

Abol Fazl sprang auf einen schäbigen Klepper, der am Straßenrand wartete, wo zuvor das Kamel gestanden hatte. (Das Kamel war gemietet und trat nun auf anderen Bühnen in der Nachbarschaft auf.) Er lenkte das Pferd geschickt um die Bühne herum und beruhigte das Tier, als es mit den Hinterbeinen bei dem Versuch, zu wen-den, auf dem glatten Asphalt ausglitt. Jedes Mal, wenn Abol Fazl sich dem Zeltdach näherte, wichen die Frauen zurück, während er (mit dem Mikrophon in der einen und dem Zügel in der anderen Hand) von seiner Liebe zu Hossein und zu Gott sprach. Die jungen Männer unter den Zuschauern grinsten, als das Pferd genau in einer Musikpause furzte. Ihre Väter runzelten mißbilligend die Stirn.

 

Der nächste Teil der Geschichte fand nicht auf der Bühne statt. Wild kämpfend – das hatte ich in Büchern gelesen – erreichte Abol Fazl das Flußufer. Er beugte sich nieder, formte eine Schale mit der Hand und führte sie mit Wasser gefüllt zum Mund. Dann hielt er inne und ließ das Wasser durch die Finger rinnen. Seine Ritterlichkeit erlaubte ihm nicht, seinen Durst zu stillen, ehe die Frauen und Kinder den ihren gestillt hatten. Er füllte seinen ledernen Wasserbehälter und sprang wieder aufs Pferd, aber in dem nun folgenden Kampf wurde er überwältigt und verlor dabei beide Hände und Augen. Er rief aus: «Oh Bruder, höre meinen Ruf und komme mir zu Hilfe!» Zwei Pfeile schnellten von der Sehne. Der eine durchbohrte Abol Fazls Wasserbehälter, der andere seine Brust.

 

Abol Fazl taumelte auf die Bühne. Er hielt den durchbohrten Wasserbehälter mit den Zähnen fest. Ein Pfeil ragte ihm aus der Brust. Seine Arme waren zwei lange Stümpfe. Zwischen den Stümpfen hielt er zwei blutige Gegenstände, die er fallen ließ, damit wir sie sehen konnten: seine Hände, die ihm im Kampf abgeschlagen worden waren. Der Imam hielt den sterbenden Abol Fazl in den Armen. Die Männer unter den Zuschauern, die in meiner Nähe standen, schlugen sich im Rhythmus der Tombak-Trommeln gegen die Brust. Die Frauen unter der Zeltplane schwankten trostlos hin und her.

 

Und das war das Ende des Schauspiels. Für Hossein war die Zeit zum Sterben noch nicht gekommen. Das würde erst morgen geschehen, an dem Tag, der Aschura genannt wird. Die Schauspieler erhoben sich und verließen die Bühne. Die Zuschauer atmeten hörbar aus. Und dann, zu meiner Überraschung, trösteten sich die Untröstlichen. Die Gesichter erhellten sich, die Qual der Zuschauer wich einem Gefühl des Gleichmuts, ja der Befriedigung. Vor mir begrüßte ein Mann gutgelaunt seinen Nachbarn. Nur wenige Sekunden zuvor hatten beide geschluchzt wie Kinder. Die Frauen begannen, sich miteinander zu unterhalten. Abol Fazl schien vergessen.

 

War er wirklich vergessen? War diese Trauer nur gespielt? Ich glaube nicht, daß sie falsch war, sie war nur einfach nicht allein bestimmend. Die Gefühlsregungen der Iraner sind nicht isoliert, sie sind nebeneinander möglich. Sie gedeihen in der Öffentlichkeit. Die Grenzen zwischen Kummer, Vergnügen und Geselligkeit sind durchlässig. Man kann Ströme von Tränen vergießen, mit seinem Nachbarn schwatzen und die Erinnerung an ein furzendes Pferd mit nach Hause nehmen. Unterdrücktes Schluchzen, zitternde Oberlippen – undenkbar bei diesen Menschen. Gefühle mögen hemmungslos zum Ausdruck kommen, aber deshalb sind sie nicht bedeutungslos oder gespielt.

 

Die ersten Zuschauer machten Anstalten, ihre Plätze zu verlassen. Der Erzähler ging zur Bühnenmitte und begann in einem sanften, fließenden Ton zu uns zu reden. Er bat uns um Nachsicht – er wolle uns eine Geschichte erzählen, die in unserer Erinnerung fortleben würde. Die Leute kehrten auf ihre Plätze zurück.

 

Vor einigen Jahren, berichtete der Erzähler, habe er nach dem Schauspiel zu seiner Freude bemerkt, daß ein Mann eine große Summe Geldes auf das grüne Tuch in der Mitte der Bühne geworfen habe. Als er das Geld nach der Vorstellung zählen wollte, war ein anderer erschienen und hatte gesagt: «Entschuldigen Sie, daß ich mich einmische, aber Sie können dieses Geld nicht annehmen.»

 

Der Erzähler hatte geantwortet: «Warum nicht? Es ist viel Geld, und ich habe eine Frau und Kinder zu ernähren. Gott ist erfreut, wenn man für gute Arbeit Geld annimmt.» Der Mann antwortete: «Glauben Sie mir, mein Herr, Sie können dieses Geld nicht annehmen. Ihre Arbeit ist muslimische Arbeit, und der Mann, der Ihnen das Geld gegeben hat, ist Christ. Er ist Armenier.»

 

Die Zuhörer waren gefesselt. Was für ein Dilemma! Was sollte man in einer solchen Situation tun? Der Erzähler fuhr fort: «Der Armenier wollte gerade mit seinem Auto davonfahren. Ich rannte zu ihm hin und warf das Geld durch sein offenes Fenster. Ich sagte: ‹Es tut mir leid. Ich kann dieses Geld nicht annehmen. Verzeihen Sie mir, bei der Seele des Imam Hossein, ich kann es nicht annehmen.› Als er hörte, daß sein Geldgeschenk zurückgewiesen wurde, stellte der Armenier den Motor seines Wagens ab und sagte: ‹Ich muß Ihnen etwas erzählen.

 

Kürzlich war ich mit einem meiner Angestellten, einem Mohammedaner, mit dem Auto unterwegs. Als wir die Berge hinunterfuhren, versagten die Bremsen. Auf beiden Seiten der Straße waren Täler, und wir wurden immer schneller. Ich schrie, ‹Oh Jesus! Rette uns!› und versuchte erneut, das Auto zum Stehen zu bringen, aber die Bremsen funktionierten nicht. Ich flehte ein zweites Mal, noch lauter, und rammte den Fuß auf das Bremspedal. Nichts. Ich beschwor Jesus noch ein drittes Mal, uns zu retten. Wieder ohne Erfolg.

 

In Panik sah ich meinen Angestellten an. Er sagte ruhig: ‹Rufen Sie Abol Fazl an!› Ich konnte denWagen nur mit Mühe auf der Straße halten und schrie: ‹Wer ist Abol Fazl?› ‹Wir haben keine Zeit mehr›, rief er zurück. ‹Rufen Sie ihn an!› Ich hatte nichts zu verlieren, also schrie ich: ‹Rette uns, Abol Fazl!› und plötzlich funktionierten die Bremsen wieder. Wir kamen direkt vor einem Abgrund zum Stehen.

 

Als wir aus demWagen kletterten, fragte ich meinen Begleiter, ob auch er einen Mann auf der Straße gesehen habe, als wir bremsten. Er schüttelte den Kopf. Ich erzählte ihm, daß da ein grün gekleideter Mann auf der Straße gewesen sei, und daß er keine Hände gehabt habe.›»

 

Der Erzähler hielt inne, senkte den Kopf und schluchzte dreimal auf. Dann wischte er sich die Augen, und sein Ton veränderte sich. «Geschätzte Brüder und Schwestern, vielleicht haben Sie den Wunsch, Ihr Wohlgefallen zum Ausdruck zu bringen, und es spielt keine Rolle, wie viel Sie auf das grüne Tuch legen …» – er nannte mehrere Summen, die alle die Mittel der Anwesenden überstiegen. «Nein, es spielt keine Rolle, wie viel es ist. Aber wenn Sie im Laufe des kommenden Jahres Abol Fazl um Hilfe bitten und keine Antwort erhalten, können Sie mir die Schuld geben …»

 

Geschoben von ihren Müttern liefen die kleinen Jungen und Mädchen auf unsere Seite der Bühne, um sich Geld von ihren Vätern zu holen. Dann gingen sie zu dem Tuch, knieten nieder, um es zu berühren und zu küssen – es hatte eine, wenn auch sehr schwache, Beziehung zum Imam Hossein, und nur wenige von den Zuhörern verfügten über die Mittel, um nach Kerbela zu pilgern. Die Kinder legten ihr Geld auf das Tuch. Als es mit Geldscheinen bedeckt war, erschienen Männer mit Tabletts, die mit Erfrischungen beladen waren. Wie wir erfuhren, waren sie von einem örtlichen Händler namens Naji gespendet worden. Seine Menschenfreundlichkeit würde ihm in diesem Leben Freunde und im nächsten die göttliche Gnade einbringen.

 

Es gab Kuchen und Gurken, die hoch aufgestapelt auf einem Kupferteller lagen, mit Zimt gewürzten Reispudding und kleine Bündel mit tiefgefrorenen, weißen Bonbons, die mit Rosenwasser gewürzt waren. Aus einem Behälter strömte Wasser in Plastikbecher, Tee floß im Bogen aus dem Schnabel eines Teekessels. In ihrer Entschlossenheit, einen Reispudding zu ergattern, stieß mir eine Frau den Ellenbogen ins Gesicht. Ich floh aus der Menge.

 

Ich rieb mir das Kinn und ging in eine nahe gelegene Seitenstraße. Statt der durchdringenden Töne des Orchesters hörte man nun ein sanftes, fernes Geräusch. Allmählich kam es näher, und ich konnte einzelne Töne unterscheiden: Hände, die gegen die Brust schlugen, zitternde Klagelaute und die Dieselmotoren der Generatoren, die die Klagen verstärkten. Die Prozession hatte begonnen.

 

Plötzlich hörte ich einen Wortschwall und das Dröhnen einer Baßtrommel aus einem Lautsprecher. Ich wandte mich um, musterte die eintönige Straße mit den kastenförmigen, geparkten Autos und dem Gestank, der aus den Abwasserkanälen aufstieg, und sah eine Armee Berittener auf einem Hügel stehen. Mit im Lampenlicht blinkenden Lanzen standen sie bereit zum Angriff, der ihr sicherer Untergang sein würde.

 

Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, daß die Armee nur aus einem Mann mit einer eisernen Standarte bestand, an deren langem Schaft Schwerter, monsterähnliche Figuren und Federbüsche in vielen Farben hin und her schwangen. Ihm folgten zwei Reihen von Männern, die im Rhythmus der Baßtrommel marschierten. Dabei schlugen sie sich mit Ketten an kurzen Griffen auf den Rücken – ein Hieb bei jedem dröhnenden Trommelschlag. Ein Mann trug eine Stange, an der zwei Lautsprecher unbeabsichtigt so befestigt waren, daß das Ganze wie ein Kreuz aussah. Von den Lautsprechern führten Drähte zu einem Mikrophon, das ein wehklagender Mann im Abstand von ein paar Schritten hinterher trug.

 

Ich mußte mich gegen die Mauer drücken, um Platz für die Standarte zu machen. Der Träger war gedrungen und schwerfällig und erfüllte seine Aufgabe mit fest zusammengepreßten Lippen. Die geschmückte Stange war an der Schnalle seines breiten Gürtels befestigt. Als er vorüberging, verlor er beinahe das Gleichgewicht, und die schwere Standarte zog ihn zu mir hinüber. Ich wandte mich rasch ab und schlüpfte in eine Seitenstraße.

 

Ich folgte der Prozession zur Hauptstraße, wo sie sich in eine Kette von mindestens einem Dutzend weiterer Prozessionen aus verschiedenen Stadtvierteln eingliederte. Die Männer waren in ihrer Trauer vereint, konkurrierten aber auch miteinander. Die Zuschauer auf den Bürgersteigen würden entscheiden, welche Prozession die größte war und welche die eindrucksvollste Standarte hatte. Hatten die Flagellanten eine oder zwei Ketten gehabt? (Daraus konnte man auf die Großzügigkeit des Wohltäters schließen.)

 

Es herrschte eine Stimmung düsteren Vergnügens. Junge Männer mit großen Mengen von Pomade im Haar führten vorsichtig anzügliche Gespräche mit Gruppen von unbegleiteten Mädchen – dies war der einzige Abend im ganzen Jahr, an dem junge Frauen unter dem Deckmantel der Frömmigkeit ohne einen Begleiter umherstreifen durften. Familien schlenderten herum. Kleine Jungen waren in weiße arabische Gewänder gekleidet, wie Hosseins Neffe, der kleine Ali Akbar. Ali Akbar hatte tapfer gegen Schemrs Männer gekämpft, bis auch er schließlich niedergemetzelt worden war.

 

Je länger ich herumwanderte, desto mehr wurde mir bewußt, was für eine gewaltige Menschenmenge hier unterwegs war. Sie erstreckte sich, soweit das Auge reichte. Die Hauptstraße war voller als vermutlich zu irgendeiner anderen Zeit im Jahr. Das gleiche galt für die Hauptstraßen in ganz Iran. In diesem Augenblick befanden sich viele Millionen Menschen auf den Straßen. Ich dachte über die Trauer nach und über das Vergnügen, das die Menschen aus dieser Trauer machten. Dabei fiel mir ein zweiter Grund für dieses Schauspiel ein: Trotz.

 

Die Menschen auf der Straße waren miteinander verbunden in ihrer Liebe zum Imam Hossein, zu seinem Vater, dem Imam Ali und (in geringerem Maß) zu den anderen zehn Imamen, die die meisten schiitischen Moslems als rechtmäßige Erben des Mantels des Propheten betrachten. In Iran stellen die Schiiten eine überwältigende Mehrheit dar, aber in den meisten Ländern der muslimischen Welt sind sie nur eine kleine Minderheit. Die Vorkämpfer der heutigen sunnitischen Mehrheit, Yazid und seine Anhänger, hatten das Erbprinzip abgelehnt und seinen wichtigsten Vertreter, den Imam Hossein, ermordet. (Die Schiiten glauben, daß sie auch alle anderen schiitischen Imame mit Ausnahme des zwölften umgebracht haben.) Selbst heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert, sind die Sunniten im benachbarten Pakistan fähig, mörderische Angriffe auf die Schiiten ihres Landes durchzuführen, Moscheen zu zerschießen und die Vorbeter umzubringen. In Saudi Arabien kontrolliert eine sunnitische Monarchie die heiligen Orte. Viele Sunniten betrachten die Schiiten als Ketzer.

 

Und so demonstrierten die Menschen hier und in vielen anderen Straßen im ganzen Land, daß sie weder ausgerottet noch ignoriert werden können. Aber sie demonstrierten auch, daß sie jene entsetzliche Sünde, die Ermordung des Imam Hossein, niemals vergessen werden.

 

Aus dem Englischen von Sigrid Langhaeuser

 

S. 11-21; Copyright Verlag C.H.Beck oHG

 

http://www.berlinerliteraturkritik.de/index.cfm?id=12176

 

ENDE (von meiner Seite erstmal)

 

Va Salam

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