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Auf ein Kind schießen


Khanoomi

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#bismillah#

 

Salam

 

von Gideon Levy

07.07.2007 — Ha'aretz / ZNet Deutschland

Nageah und Ibrahim Al Qarinawi im Haus, das sie für Mahmoud in Rahat gebaut haben.Der Vater wollte das Haus noch vor seinem eigenen Tod fertigbauen. Jetzt hängt dort das Bild des toten Jungen. Photo: Nir Kafri

 

Sie sitzen im Wohnzimmer in Rahat und trauern um das tote Kind: die palästinensische Mutter, deren Kinder aus erster Ehe zum Teil in israelischen Gefängnissen sitzen, einige sind aktiv beim Islamischen Jihad, sein greiser Vater, Bedouine, Rentner und ehemaliger Mitarbeiter der Sanitärabteilung der Stadt Arad, und der ältere Neffe des Jungen, der in der Israelischen Armee gedient hat. Zwei andere Neffen dienen beim Grenzschutz, eine Einheit, deren Undercover-Agenten vor zwei Wochen ihren jungen Onkel töteten, den israelischen Jungen Mahmoud Al Qarinawi, zehn Jahre alt zum Zeitpunkt seines Todes. Verrückt. Oder?

 

Er kletterte auf einen Feigenbaum beim Haus der Familie seiner Mutter im Dorf Seida zwischen Tulqarem und Jenin, um Feigen für das Mittagessen zu pflücken, als sein bewaffneter Halbbruder, der Gesuchte Zadik Oudi, mit einem Freund – auch der gesucht – das Haus betrat, um den Jungen und seine Mutter zu treffen. Die "Mistaarvim"1, die Undercover-Leute, stürmten ins Haus und schossen um sich, töteten den Jungen auf dem Baum, verletzten den gesuchten Bruder schwer und töteten dessen Freund. Zwei Söhne und eine Tochter hatte Nageah schon im Gefängnis, jetzt sitzen zwei weitere Söhne dieser Mutter, die einen Sohn verloren hat, dort: Sadiq, schwer verletzt und dann festgenommen, und sein Bruder Wafiq, der die Leiche seines Stiefbruders nach Hause, nach Israel begleitete und festgenommen wurde, weil er sich illegal im Lande aufhielt. Einer, der die Leiche seines Stiefbruders zur Beerdigung nach Israel begleitet, nachdem dieser von Israel getötet wurde, wird also auch als Illegaler betrachtet, der demzufolge ins Gefängnis muss.

 

Ein Kind tot, vier Söhne und eine Tochter im Gefängnis, einer davon schwer verletzt – sie weiß nicht, wie es ihm geht, sie hat keine Möglichkeit, es zu erfahren – sitzt diese Mutter zu Hause in Rahat, weint leise über Mahmoud und zeigt uns die neuen Kleider und den Schulranzen, den sie ihm für das neue Schuljahr gekauft hat. Neue Nike-Schuhe, Designer-Jeans und ein modernes Hemd, alles noch zusammengefaltet und mit Preisschild. Die Nikes wollte Mahmoud erst im neuen Schuljahr tragen, wollte in neuen Schuhen in die Schule kommen. Er war ein ausgezeichneter Schüler, mit einem Durchschnitt von 98 in der fünften Klasse, seiner letzten. Die niedrigste Punktzahl hatte er in Hebräisch: 75.

 

Er war noch nicht elf Jahre alt und schon Hausbesitzer. Mahmouds Vater Ibrahim, der die 80 schon überschritten hat, baute dem Sohn seiner alten Tage ein weißes Haus auf dem Familiengrund in Rahat. Es ist fast fertig. Die Wände sind verputzt, die Fenster vergittert. Der kleine Mahmoud wollte auch einen Whirlpool, der ist aber noch nicht installiert. In diesem leeren Haus wurde seine kleine Leiche am Samstag vor zwei Wochen aufgebart.

 

Auf väterlicher Seite hatte Mahmoud nur einen Bruder. Er ist 60 Jahre alt. Die Kinder dieses Bruders, Enkel seines Vaters, haben in der israelischen Armee und beim Grenzschutz gedient. Einer von ihnen ist noch Berufssoldat. Auf mütterlicher Seite hat er vier Brüder und eine Schwester im Gefängnis, und zwei Schwestern, 16 und 18 Jahre alt, die jetzt allein in Seida in der Westbank geblieben sind, in eben dem Haus, in dem er von den Undercoverleuten getötet wurde.

 

Die Witwe Nageah, 46, Mutter von sieben Kindern, und der alte Witwer Ibrahim hatten 1995 geheiratet. Mahmoud, ihr einziger gemeinsamer Sohn, wurde 1997 geboren. Nageah übersiedelte illegal nach Rahat zu ihrem Mann. Mahmoud war ein israelischer Junge, der Hebräisch sprach und eine hebräische Schule besuchte, die Salah Eddin–Schule in Rahat. Im letzten Zeugnis stand, Mahmoud sei ein vorbildliches Kind, obwohl seine Leistungen seit letztem September etwas nachgelassen hätten. Nageah weint. Sie verwahrt alle Zeugnisse und Auszeichnungen ihres Sohnes in einer Plastikhülle. Hier, das Klassenphoto, Mahmoud steht hinten links.

 

Nageah arbeitet in der Landwirtschaft in der Gegend von Arad, schickt ihren verlassenen Töchtern im Dorf Seida, Ruqia und Rushda, Geld. Beide mussten mit ansehen, wie der eine Bruder getötet, der andere verletzt wurde. Mahmoud fuhr gerne in den Ferien zum Haus der Familie seiner Mutter nach Seida. Die Jihad-Männer, seine inhaftierten Brüder, verbrachten als Kinder ihre Ferien im neuen Zuhause der Mutter in Rahat, in Israel.

 

Auch diese Sommerferien besuchte Mahmoud seine Stiefgeschwister. Die Mutter wollte es ihm ausreden, es sei dort so gefährlich, aber der Junge wollte nach Seida. Er wollte seine Geschwister sehen, auch den gesuchten, bewaffneten Bruder. Also brachte die Mutter ihn Mitte August zum Checkpoint Jubara bei Tulkarem, wo sein nicht inhaftierter, nicht gesuchter Bruder auf ihn wartete. Mit seinem israelischen Ausweis überquerte Mahmoud den Checkpoint ohne Schwierigkeiten. Seine Mutter ging wieder arbeiten in den Gemüsefeldern jüdischer Bauern bei Arad.

 

Eine Woche später kam die Mutter nach Seida, ihre Söhne und Töchter zu besuchen und Mahmoud mit nach Hause zu nehmen. Diese Woche fängt ja das neue Schuljahr an. Vor dem Abschied wollten sie alle gemeinsam festlich zu Abend essen. Das war am Freitag. Sie schlachteten ein Schaf. Mahmoud zeigte ihnen, wie man ein Schaf schlachtet, und alle freuten sich über ihren "Bedouinen" in der Familie. Sadik und sein Halbbruder zogen sich oft gegenseitig auf: Der eine nannte den anderen "Bedouine", der andere den einen "Falach2". Eine Patchwork-Familie.

 

Der 22jährige Sadik, aktiv im Islamischen Jihad, wollte auch nach Hause kommen. Verwandte warnten ihn per S-M-S, ein unbemannter Flugkörper fliege über dem Viertel, aber er wollte nach langer Zeit seine Mutter wieder sehen. Gegen zwölf Uhr mittags betrat er, bewaffnet mit einer Kalaschnikov, das Haus, mit seinem Freund Tariq. Er berichtete der Mutter von seinem Entschluss, sich diese Woche zu stellen, er habe genug vom Leben auf der Flucht, in Höhlen voller Schlangen.

 

Nachdem das Schaf geschlachtet war und auch die Nachbarn vom Fleisch bekommen hatten, fuhren die Mutter und Mahmoud ins Dorf Ro'i bei Jenin, um auch der Familie des gesuchten Tariq vom Fleisch zu bringen. Gegen vier Uhr kamen sie zurück. Mahmoud kletterte auf den Feigenbaum im Hof, um Feigen zum Nachtisch zu pflücken. Er füllte einen Eimer und bat dann seine Mutter um eine Tüte für Feigen, die er nach Rahat mitnehmen wollte. Um diese Zeit gingen Sadik und Tariq beten, in verschiedenen Zimmern, vielleicht aus Vorsicht. Sie zogen ihre Westen aus und legten ihre Waffen in die Zimmerecken. Man zeigt uns ein altes Photo der beiden Waffenbrüder: Tariq und Sadik Arm in Arm, in vergangenen Zeiten.

 

Plötzlich hielt ein Taxi auf der Straße. Aus dem gelben Wagen mit palästinensischen Nummernschildern sprangen Agenten in Zivil mit schwarzen Gesichtsmasken. Es waren ungefähr zehn Leute, und nach den Zeugenberichten – der Mutter Nageah aus Rahat und ihrer Töchter, die von der Menschenrechtsorganisation "Btselem" aufgenommen wurden – fingen sie an, in alle Richtungen zu schießen. Aus den Berichten geht klar hervor, dass die "Mistaarvim"1 zuerst schossen, ohne Vorwarnung oder Vorwand, sie stürmten einfach das Haus und schossen drauf los.

 

Mahmoud fiel vom Baum, er blutete heftig. Drei Kugeln hatten ihn getroffen, eine davon am Kopf. Tariq und Sadik beeilten sich, ihre Waffen zu holen und Sadik begann zu schießen. Nageah lief zu ihrem sterbenden Kind, aber einer der Agenten befahl ihr, ihn loszulassen und schoss ihr in die Schulter. Sie wurde leicht verletzt. Mahmoud habe da noch geatmet, sagt sie. Sie rief den Soldaten zu, dieser Junge sei Israeli, die blieben aber ungerührt. "Lass ihn los, oder ich schieße nochmal", rief ihr ein anderer Agent auf Arabisch zu. "Der Junge ist tot, Allah hat Erbarmen".

 

Tariq wurde kurz darauf getötet und Sadik wurde am ganzen Körper verletzt. Die Agenten brachten das tote Kind nicht nach Israel, obwohl er Israeli war. Seine Leiche wurde ins Krankenhaus in Tulkarem gebracht, wo der Tod festgestellt wurde. Es dauerte noch einen halben Tag, bis ein israelischer Krankenwagen gefunden wurde, der bereit war, die Leiche nach Rahat zu transportieren; ein privater Krankenwagen-Fahrer hatte sich geweigert, in die israelische Bedouinen-Stadt zu fahren. Dann wurde die Familie von den Armee-Behörden gebeten, eine Erklärung zu unterschreiben, worin sie von jeglicher Beschwerde Abstand nehmen sollte. Sie weigerte sich natürlich. Daraufhin wurde die Leiche zum forensischen Institut in Abu Kabir transportiert. Am Samstag Nachmittag wurde Mahmoud dann im Friedhof von Rahat begraben. Sein Stiefbruder Wafiq, der die Leiche nach Rahat begleitet hatte, wurde wegen "illegalen Aufenthalts" verhaftet. Diese Woche saß der illegal Erwischte immer noch in Haft auf der Polizeistation in Rahat.

 

Der Armeesprecher diese Woche: "Im erwähnten Fall eröffneten bewaffnete Terroristen das Feuer auf die Truppen, die gezwungen waren, Feuer zu erwiedern, wobei zwei gesuchte Aktivisten des Islamischen Jihad getroffen wurden, die sich intensiv mit Terroraktionen gegen den Staat Israel beschäftigt haben. Was den Knaben Mahmoud Al Qarinawi betrifft, der zu Tode kam, drückt die Armee ihr Bedauern aus darüber, dass ein Jugendlicher getroffen wurde der nicht in Terror-Aktivitäten verwickelt war. Es bleibt unklar, ob er (Al Qarinawi) vom Feuer der Armee oder von den bewaffneten Terroristen getroffen wurde. Die Realität, in der Terrororganisationen aus der palästinensischen Zivilbevölkerung heraus agieren, bringt es mit sich, dass solche Dinge sich ereignen."

 

Die Familie in Israel ist noch immer sehr erregt. "Ich bin gegen Anschläge, gegen Terroristen und für den Staat. Aber auf ein Kind schießen?", sagt einer der Neffen, der darum bittet, nicht mit Namen genannt zu werden. "Ich habe in der Armee gedient, aber ich kann mich nicht erinnern, dass uns je gesagt wurde, wir sollen auf Kinder schießen. Das hätte nie passieren dürfen. Ich glaube nicht, dass jüdische Soldaten so etwas getan haben. Jüdische Soldaten schießen nicht auf Kinder. Vielleicht Drusen."

 

Im Hof in Rahat steht der kleine Hühnerstall, um den Mahmoud sich gekümmert hat. Im Film, den die Mitarbeiter von "Btselem"3 gedreht haben, ist der Feigenbaum in Seida zu sehen: Saftige grüne Feigen hängen noch immer an Mahmouds Todesbaum. Seine Mutter zeigt uns Mahmouds Sammlung von hundert farbig glitzernden Glas-Murmeln. Der Nachbar Suleiman Al Qarinawi, Mitarbeiter der Bürgerinitiative "Sanegor Kehilati" (Gemeindefürsprecher), der uns nach Rahat begleitete, macht sich Sorgen um den seines Sohnes beraubten greisen Vater. Seit Mahmoud tot ist, isst er nicht mehr. Auch diesen Sonntag, als wir zu Besuch waren, sprach der Vater kaum ein Wort, die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Im leeren neuen Haus des Jungen, das der Vater noch vor dem eigenen Tod fertig bauen wollte, hängt nun ein Bild des toten Kindes, und eins von Sadik, seinem Halbbruder, der schwer verletzt im Gefängnis sitzt. Zwei Bilder auf hellblau verputzten Wänden, in einem Haus, in dem sein Besitzer nie wohnen wird.

 

1 "Mistaarvim": als arabische Zivilisten verkleidete Undercover-Agenten der israelischen Armee;

 

2 Falach: Bauer;

 

3 Btselem: israelisch-palästinensische Menschenrechtsorganisation

 

http://zmag.de/artikel/auf-ein-kind-schiesen

 

Wassalam

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#bismillah#

....

Ich bin schockiert! Sprachlos! Mein Herz droht zu zerbrechen bei dem Gedanken, dass es solche gemeinen, herzlosen, würdelose Menschen gibt!

Oh Allah, verzeihe niemandem, der eine unschuldige Seele tötet, es sei denn, er bereut zutiefst!

 

Tränen!

Wut!

Verständnislosigkeit!

Trauer!

#neutral#

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